Das große Dilemma
Die Defizite bei Politikern und der IFEN-Direktion werden zunehmend zum Problem.
Diese Zeilen entstanden als eine Reaktion auf den am 22. Februar 2019 im Luxemburger Wort veröffentlichten Leitartikel Das große Dilemma von Frau Gantenbein.
Lehramtsreferendare an (Grund)schulen fühlen sich nicht wie Studenten. Studenten, Frau Gantenbein, sind meistens glückliche Menschen, welche gerade einen schönen Abschnitt ihres Lebens genießen. Studenten sind Menschen, freie Menschen mit Rechten. Lehramtsreferendare an luxemburgischen (Grund)schulen sind nicht frei, weder in ihrem Handeln noch in ihrem Denken; Referendare sind Sklaven der “Didaktoren” des IFEN (für alle IFEN-Mitarbeiter: Das Wort “Didaktor” setzt sich aus den beiden Wörtern “Didaktik” und “Diktator” zusammen). So wird im Stage in erster Linie auch nicht die Fähigkeit, Schüler zu unterrichten bewertet, sondern die Fähigkeit dem Bildungsministerium und dem IFEN hörig zu dienen. In ebendiesem Sinne ist das Referendariat eine Zeit voller fremdem Joch und Leid.
Sie schreiben dann weiter über die reale Kompetenz von Referendaren; hauptsächlich deren sprachliche Begabung wird bemängelt. Wobei Sprache in Luxemburg ja immer Französisch bedeutet. Niemanden interessiert es, ob und wie gut ein Referendar die deutsche oder englische Sprache beherrscht. In der Sache hätten Sie dabei theoretisch sogar recht, nur sind die von Ihnen aufgeführten Beweise für die grobe Inkompetenz der Referendare nichts anderes als gewollte Tiefschläge, oder wollen Sie etwa behaupten, dass Sie, selbst wenn umzingelt von zwanzig unruhigen Kindern, niemals nie auch nur den kleinsten Rechtschreibfehler begehen würden? Ob Ihr Redakteur, obwohl Sie oft Ihre Texte in Ruhe verfassen können, noch nie etwas bei Ihnen korrigiert hat? Ist förderbedürftig eigentlich ein deutsches Wort, Frau Gantenbein, oder ein von Didaktoren Erfundenes? Das machen die Didaktoren durchaus öfter, sie verstehen es mustergültig, ihre unbegrenzte Ignoranz hinter fein klingenden Wortkreationen zu verstecken.
Aber natürlich muss ein Referendar in Luxemburg die französische Sprache, welche für die meisten Luxemburger nun einmal eine Fremdsprache ist, in jeder Situation fehlerfrei, noch besser perfekt, beherrschen. Es sollte noch angemerkt werden, dass ein Lehrer, welcher die IFEN-Didaktur überlebt hat, naturgemäß absolut keine Fehler mehr begeht. In diesem Sinne steht es ihm dann, als überlegenem Menschen, natürlich zu, über die sprachliche Inkompetenz seiner neuen, niederen Kollegen entsetzt zu sein. Außerdem, und das ist wichtig, aufpassen jetzt, ist jeder beim IFEN eingestellte Mitarbeiter jedem Universitätsprofessor für Deutsch und Französisch, jedem Sprachwissenschaftler und jedem Schriftsteller sprachlich überlegen.
Übrigens ist es tatsächlich falsch zu behaupten, Carrefour sei bloß ein Supermarkt. Die Carrefour S. A. ist ein international tätiges französisches Unternehmen im Einzel- und Großhandel. Es ist nach der Schwarz-Gruppe das zweitgrößte Einzelhandelsunternehmen Europas! Das sollte man als Lehrer durchaus wissen, da haben Sie, wieder einmal, recht.
Dem Autor sei aber noch die Frage erlaubt, ob ein Schreibfehler im Aufgabenbuch wirklich der Untergang des Abendlandes sei. Ihm fielen viele wichtigere Probleme ein, die den Ärger der Eltern wahrlich verdient hätten. Aber vermutlich ist es dann doch einfacher, auf wehrlose Referendare ein zu prügeln – auf junge Menschen, die gerade dabei sind, sich selber und ihren Stand in der Gesellschaft zu finden – als sich gegen ein ganzes Ministerium zu behaupten, denn dafür müsste man bereit sein, zu kämpfen. Und wer von uns ist heute dafür schon noch stark genug?
Interessant ist vielleicht auch noch die Anmerkung, dass viele Referendare zu ihrer Schulzeit eine eher nicht wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hatten, ebenso sind die wenigsten der Referendare im tiefsten Inneren der Wissenschaft zugeneigt, und doch ist man insbesondere über das sprachliche Unvermögen entsetzt. Als Mathematiker mag ich mir die Gräueltaten, die an luxemburgischen (Grund)schulen an meiner geliebten Wissenschaft begangen werden, wohlgemerkt ohne, dass es jemandem überhaupt auffallen würde, gar nicht erst vorstellen.
Die Defizite bei Politikern und der IFEN-Direktion werden immer mehr zum Problem. Sie behaupten, die Universität und das IFEN hülfen bei der Aufarbeitung der Schwächen. Der bloße Gedanke daran lässt einen Erschaudern. Bei der absoluten Arroganz der IFEN-Direktion ist es durchaus denkbar, dass fälschlicherweise davon ausgegangen wird, dass ihr grauenhaftes Konstrukt hilfreich und sinnvoll sei. Der nächste Satz in Ihrem Leitartikel kommt der Realität so nahe – und doch trauen Sie sich nicht, die Wahrheit auszusprechen:
Die eigentliche Frage jedoch, mit der die Politik und die Gesellschaft sich auseinandersetzen müssen, lautet: Wie kann es sein, dass nach einer abgeschlossenen Sekundarschullaufbahn, einer bestandenen Aufnahmeprüfung an der Uni und einem abgeschlossenen Bachelorlehrgang mit umfangreicher Praxiserfahrung, Lehrer auf den Bildungsmarkt geworfen werden, die als förderbedürftig eingestuft werden, weil ihnen grundlegende Kompetenzen fehlen? Wie kann es sein, dass Kompetenzen verifiziert werden, die nicht vorhanden sind? – Michèle Gantenbein, Das große Dilemma
Da ist sie wieder, diese Wortkreation: Förderbedürftig. Der Duden jedenfalls kennt dieses Wort nicht; die Didaktoren haben es erfunden, da sie zu verweichlicht sind, um die Wahrheit auszusprechen. Bin ich als Mathematiker jetzt eigentlich geistig behindert, da ich das Wort carrefour tatsächlich nicht kannte und bisher nicht vom IFEN gefördert wurde? Ich würde eher sagen, dass ich wegen den, wenn auch nur wenigen, Stunden, die ich am IFEN verbringen musste, förderbedürftig wurde. Aber gut, lassen Sie uns Fünfe doch ausnahmsweise mal gerade sein und uns um das eigentliche Problem kümmern.
Wie Sie richtig erkannt haben, liegt das Problem am schwächelnden Output des Schulsystems. Damit haben Sie hervorragend ausgedrückt, dass das Abitur komplett entwertet wurde. Wie kann es sein, dass Kompetenzen verifiziert werden, die nicht vorhanden sind, fragen Sie. Für die Politik jedoch ist dies kein Widerspruch, sondern genau so gewollt. Nicht nur in Luxemburg. Jedes Land in Europa und der westlichen Welt wird von diesem Phänomen bedroht. Ich durfte persönlich zehn Jahre mit ansehen, wie deutsche Abiturienten, aber auch Franzosen und Luxemburger, ja, junge Menschen aus der ganzen Welt, zugekleistert mit hübschen Kompetenzen aus verschiedenen Mathematik–Leistungskursen, zur Universität kamen, ohne überhaupt zu wissen, was Mathematik denn überhaupt sei, geschweige denn, wie man lernt.
Im Kompetenzwahnsinn gefangen, fordern unsere Politiker, dass unsere Schüler viele wichtige Kompetenzen erlangen, und das klingt immer so wunderbar, als ob das neue Schulsystem die besten Menschen ausbilden würde, die es je gab, doch ist im Lehrplan für die meisten dieser Kompetenzen keine Zeit vorgesehen. In einer beispiellosen Darbietung von Kulturlosigkeit wurden und werden Vorgaben der OECD unkritisch umgesetzt und erfolgreiche Bildungssysteme in ganz Europa komplett ruiniert. Seither werden im Namen von PISA in einem Akt der Barbarei unsägliche Gräueltaten an Millionen von Kindern verübt.
Eine Schule wird heute wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt. Ist es zu verwegen zu glauben, dass bei einem Wirtschaftsmathematiker die Gedanken, alles und jeden messbar zu machen, jeden Menschen bewerten zu können, egal wie schlecht und nichts aussagend das, meistens ohnehin zurechtgebogene, Maß auch sein mag, um aber auch jeden noch so dämlichen Beschluss durch manipulierte und falsch ausgewertete Studien zu untermauern, zu feuchten Träumen führen? Gute Nacht, Herr Meisch.
Das Kompetenzsystem der OECD ist ein Konstrukt, um solche Träume zu ermöglichen. Die Kompetenzorientierung bringt faktisch eine Absenkung des Bildungsniveaus, denn sie vernachlässigt Fachinhalte und würdigt sie zu puren Trainingsobjekten herab. Es ist ein rein mechanisches System, in welchem es egal ist, ob man Lesekompetenz anhand der Lektüre von Goethes Faust oder der Gebrauchsanweisung eines Smartphones erlangt. Damit gehen wichtige Bildungsinhalte schlicht verloren. Aber Kompetenz ist Kompetenz, und noch viel essenzieller für unsere Politiker: Das Kompetenzsystem verspricht bessere Abiturquoten. Wie gerne brüstet man sich doch damit, dass heutzutage mehr junge Menschen als je zuvor Ihr Abitur schaffen. Aber mehr Abschlüsse bei sinkendem Niveau sind eine sehr gefährliche Tendenz.
An dieser Stelle sei ebenso Herr Peping, Leiter der IFEN-Didaktur, gegrüßt: Mit farbigen Stiften hohle Phrasen auf kleine farbige Zettel schreiben und diese dann zu einem Poster zusammenzusetzen ist keine Weiterbildung, sondern polychromer Nonsens und eine beispiellose Demütigung des menschlichen Intellekts!
Kompetenzen können, leider, auch ohne Inhalte trainiert werden. Nur mit Bildung hat ein solches System dann nichts mehr gemein. Ein sich Bildender sucht die Auseinandersetzung mit dem Fach selbst, will Inhalte verstehen, will erkennen, was die Welt im innersten zusammenhält, will Entdecker von neuen unbekannten Welten sein. Kurz – er denkt selbst. Das selbstständige Denken wird durch Kompetenzen aber weniger bis kaum gefördert, es dreht sich nur noch um trainierbare Fähigkeiten, damit die nächste PISA-Studie auch ja glimpflich ausfällt. Es ist ein System, welches einen mit sanften Worten trägt, einen jedoch mit Schaum erschlägt, wo man komplett dem Schein erliegt und auf das Sein nichts mehr gibt. Der Mensch an sich hat in einem solchen System keinerlei Wert.
Sie schreiben weiter, dass angehende Lehrer „auch über grundlegende sprachliche und mathematische Fähigkeiten verfügen“ sollen. Wie eben erklärt, ist das von Ihnen angesprochene „Nivellement vers le bas“ jedoch keineswegs eine Tatsache, die nur „bei angehenden Lehrern besonders deutlich zutage tritt“ und definitiv kein Bug, kein Fehler im Programm, sondern ein gewolltes Feature. Sehen Sie, woher sollen die Referendare, welche über solche grundlegenden Fähigkeiten verfügen, denn auch herkommen, wenn unser neues Schulsystem zwar das Erlangen von Kompetenzen vortäuscht, letztlich aber nur diejenigen Schüler belohnt, die den standardisierten Tests absoluten gehorsam schwören.
Wenn man den Prozentsatz der Abiturienten stetig erhöht und dabei alle Schüler inkludieren und denselben Stoffumfang durchleiden lassen möchte, so sollte klar sein, dass das Erreichen dieses Zieles damit bezahlt wird, dass das Niveau der Schulausbildung ins Bodenlose sinkt, und das sollten dann zumindest diejenigen wissen, die künftig auf der Suche nach fähigen Schulabgängern sein werden.
Wir bauen unsere Häuser im Moment auf einem sehr wackeligen Fundament auf und laufen Gefahr, uns in einer Abwärtsspirale zu verfangen.
Sie behaupten darneben, die vielen Seiteneinsteiger seien ein Problem, dem möchte ich vehement widersprechen. Ein Lehramtsstudiengang ist, verglichen mit anderen Studiengängen, insbesondere wissenschaftlichen Studiengängen, ein Kinderspiel im wahrsten Sinne des Wortes. Verstehen Sie mich nicht falsch, jeder ist seines Glückes Schmied, viele Referendare sind intelligente und kompetente Menschen, welche ihrem Beruf mit Hingabe und vorbildlichem Eifer nachgehen. Nur sollte klar sein, dass sie dies nicht aufgrund ihres Studiums sind, sondern trotz dessen. Ein Lehramtsstudium in der heutigen freien Welt gleicht einer Gehirnwäsche: Es ist eine Erziehung zur absoluten Gehorsamkeit den didaktischen Methoden der Didaktoren gegenüber.
Warum ein Lehrer überhaupt unbedingt zur intellektuellen Elite des Landes zählen soll, entzieht sich ebenfalls meiner Vorstellungskraft. Wäre es nicht viel sinnvoller, angehende Lehrer an ihren tatsächlichen Aufgaben zu messen? Sollte das Studium vielleicht nicht auch einfach eine Arbeitsausbildung sein, welche auf den Grundlagen, die jeder Abiturient haben sollte, aufbaut? Oh, Moment mal …
Bei zwei Sachen haben Sie allerdings absolut recht. Die Lehrerausbildung komplett dem IFEN zu überlassen, wäre ein enormer Rückschritt und dann wohl tatsächlich unser aller Ende. Das war dieses Mal kein Sarkasmus.
Die bildungspolitischen Entscheidungen der vergangenen Jahre sollten wahrlich grundlegend infrage gestellt werden. Wie soll das allerdings passieren, wenn unser Ministerium für Bildung mit dem IFEN ein System zur totalen Auslöschung jeglichen Widerstandes gegenüber dem standardisierten und feminisierten Bildungssystem der OECD eingeführt hat? Unter dessen fremdem Joch verlieren wir unseren freiheitlichen Sinn und sehen gelähmt zu, wie das Licht der Freiheit und der Vernunft von Arroganz und Ignoranz umnebelt wird. Ignoramus et ignorabimus. Warum sollten wir auch wissen wollen, wir haben doch Google und Netflix.
Der kurze Blick über unsere Landesgrenzen hinaus offenbarte, dass die Bildungspolitik der OECD fürwahr ein Trauerspiel epischen Ausmaßes ist. Deswegen sage ich: Ich dissentiere! Aber viel lieber würde ich, in Gedanken an diejenigen, die nach uns da sein werden, schreiben: wir dissentieren!
Ehrliche Anmerkung des Autors: Ich möchte explizit allen Referendaren, Lehrern und Didaktikern, die durch ihre tägliche Arbeit an ihren Schulen und in der Lehrerausbildung dafür Sorge tragen (vergeblich, in meinen Augen), dass ein gewisses Minimalniveau nicht unterschritten wird, danken.
Referenzen
- Bildung Schule Mathematik von Franz Lemmermeyer
- ”La Tache noire” von Albert Bettannier